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Regierungsentwurf zur digitalen Dokumentation der Hauptverhandlung

Aus wistra 7/2023

Die Bundesregierung hat am 10.5.2023 den von Bundesjustizminister Buschmann vorgelegten Entwurf eines Gesetzes zur digitalen Dokumentation der strafgerichtlichen Hauptverhandlung (Hauptverhandlungsdokumentationsgesetz – DokHVG) beschlossen und dem Bundesrat zur Stellungnahme zugeleitet (BR-Drucks. 227/23; zum Referentenentwurf s. Erhard, ZRP 2023, 12; Gittermann, DRiZ 2023, 20; Nickolaus, ZRP 2023, 49; zum Regierungsentwurf s. Killmer, DRiZ 2023, 222). Der Entwurf soll die gesetzlichen Grundlagen für die digitale Dokumentation der Hauptverhandlungen vor LG und OLG schaffen. Dokumentiert werden soll durch digitale Tonaufzeichnungen, die automatisiert in ein elektronisches Textdokument (Transkript) übertragen werden. Die Verfahrensbeteiligten sollen möglichst zeitnahen Zugriff auf die Dokumentation erhalten.

1. Chance für eine noch bessere Wahrheitsfindung in Strafverfahren

Da das Protokoll (außer bei den AG) den Inhalt der Hauptverhandlung derzeit regelmäßig nicht festhalte, fehle den Verfahrensbeteiligten eine objektive und zuverlässige Dokumentation der Hauptverhandlung (RegE, S. 1). Manche Protokolle von Elternabenden gäben Redebeiträge zur nächsten Klassenfahrt ausführlicher wieder als das Protokoll im Strafverfahren, wo es um die Frage einer Freiheitsstrafe gehe (BMJ, Begleitpapier zum DokHVG-E, S. 1). Die Verfahrensbeteiligten müssten den Inhalt der Hauptverhandlung, etwa der Aussage von Zeugen, zur Gedächtnisstütze selbst notieren und könnten sich so nicht immer vollumfänglich auf das Geschehen in der Hauptverhandlung konzentrieren. Auch könnten Meinungsverschiedenheiten über den Inhalt der Hauptverhandlung entstehen, da die jeweiligen Mitschriften nicht erschöpfend sein könnten und subjektiv geprägt seien. Das Fehlen einer Inhaltsdokumentation mache sich wegen der heute im Schnitt deutlich längeren Dauer von Hauptverhandlungen und der häufigeren Umfangsverfahren besonders bemerkbar, da die Erinnerung an das Hauptverhandlungsgeschehen mit der Zeit schwächer werde (RegE, S. 1). In verschiedenen anderen europäischen Staaten sei eine Dokumentation der strafgerichtlichen Hauptverhandlung durch ihre Aufzeichnung in Bild und Ton oder nur Ton inzwischen gängige Praxis (RegE, S. 9). Die vom BMJ 2019 eingesetzte Expertengruppe zur Dokumentation der strafgerichtlichen Hauptverhandlung sei in ihrem Abschlussbericht zu dem Ergebnis gekommen, dass die Einführung einer technischen Dokumentation der strafgerichtlichen Hauptverhandlung sowohl rechtlich als auch technisch-organisatorisch möglich sei und erhebliche Chancen für eine noch bessere Wahrheitsfindung in Strafverfahren biete (RegE, S. 10). Das Risiko, dass sich ein Urteil auf falsch wahrgenommene oder erinnerte Aussagen stütze, könne so weiter reduziert werden (BMJ, Begleitpapier zum DokHVG-E, S. 1).

Nach dem Gesetzentwurf soll Abs. 2 der bisherigen Regelung zum Hauptverhandlungsprotokoll (§ 271 StPO) folgende Fassung erhalten (Art. 1 Nr. 5 RegE):

§ 271 StPO-E

Dokumentation der Hauptverhandlung

...

(2) Eine Hauptverhandlung, die erstinstanzlich vor dem Landgericht oder dem Oberlandesgericht stattfindet, ist zudem nach Maßgabe des § 19 des Einführungsgesetzes zur Strafprozessordnung digital zu dokumentieren. Die Dokumentation erfolgt vorbehaltlich des § 19 Abs. 1 Satz 2 des Einführungsgesetzes zur Strafprozessordnung durch eine Tonaufzeichnung, die automatisiert in ein elektronisches Textdokument (Transkript) zu übertragen ist.

Tonaufzeichnung und Transkript könnten den Inhalt der Hauptverhandlung dokumentieren und den Verfahrensbeteiligten als verlässliches, objektives und einheitliches Arbeitsmittel zur Verfügung stehen. Die Beschränkung auf die Tonaufzeichnung soll den Bedenken Rechnung tragen, die sich speziell gegen die (im Referentenentwurf noch vorgesehene) Videoaufzeichnung richteten. Zugleich sollen die Länder die Videoaufzeichnung aber erproben und so feststellen können, welche Vor- und Nachteile mit ihr einhergehen (§ 19 I 2 EGStPO-E; BMJ, Begleitpapier zum DokHVG-E, S. 1).

2. Schrittweise Einführung

Der Gesetzentwurf sieht eine schrittweise Einführung der digitalen Dokumentation vor. Die Länder sollen bis zu der bundesweit verbindlichen Einführung (1.1.2030; Art. 2, 10 II RegE) den Zeitpunkt für die Einführung der Inhaltsdokumentation durch Rechtsverordnung bestimmen und diese zunächst auf einzelne Gerichte oder Spruchkörper begrenzen können (Pilotierungsphase). Sie können dabei von Beginn an auch eine zusätzliche Bildaufzeichnung vorsehen (Art. 3 RegE, § 19 I 2, II EGStPO-E). Für die Staatsschutzsenate soll die Dokumentationspflicht bereits ab dem 1.1.2028 gelten (Art. 3 RegE, § 19 IV EGStPO-E). Dabei könne der Bund aus eigener Zuständigkeit für die Organleiheverfahren in Staatsschutzsachen gemeinsam mit Ländern eine Referenzimplementierung entwickeln. Die Länder könnten diese Referenzimplementierung in der Pilotierungsphase testen und nach der Testphase für weitere und schließlich alle Gerichte nutzen (RegE, S. 10).

3. Schutz von Persönlichkeitsrechten

Zum Schutz der Persönlichkeitsrechte sieht der Gesetzentwurf verschiedene verfahrensrechtliche und materiell-strafrechtliche Maßnahmen vor. So ist nach § 273a II StPO-E (Art. 1 Nr. 7 RegE) die Verwendung der Aufzeichnungen und Transkripte grundsätzlich nur für Zwecke des Strafverfahrens zulässig. Eine Verwendung für wissenschaftliche und historische Zwecke ist möglich. Die Aufzeichnungen und Transkripte der Angaben von Angeklagten, Zeugen und Nebenklägern dürfen nur mit deren Einwilligung auch in anderen gerichtlichen oder behördlichen Verfahren verwendet werden. Aufzeichnungen und Transkripte sollen in dem Verfahren, in dem die Aufzeichnung und Transkription erfolgt, keine Beweismittel i.S.d. § 244 StPO sein. Wenn zum Schutz gefährdeter Personen oder der Staatssicherheit ein ganz besonders hohes Geheimhaltungsinteresse besteht, soll von der Aufzeichnung nach den gleichen rechtlichen Maßstäben abgesehen werden können, wie sie in diesen Fällen für den Ausschluss der Öffentlichkeit gelten (§ 273 II StPO-E, Art. 1 Nr. 7 RegE). Nach § 353d Nr. 4 StGB-E (Art. 5 RegE) soll es zukünftig strafbar sein, die Aufzeichnungen zu verbreiten, sie der Öffentlichkeit zugänglich zu machen oder sie unbefugt weiterzugeben, wenn diese Weitergabe geeignet ist, eine Person, zu der die Bild-Ton-Aufzeichnung oder die Tonaufzeichnung Angaben enthält, oder eine ihr nahestehende Person der Gefahr einer gegen sie gerichteten rechtswidrigen Tat gegen Leib, Leben oder die persönliche Freiheit auszusetzen.

4. Hauptverhandlungsprotokoll und Revision

Das Hauptverhandlungsprotokoll soll – auch in seiner Funktion für das Revisionsverfahren – im Wesentlichen unverändert erhalten bleiben. Die digitale Inhaltsdokumentation werde neben das Hauptverhandlungsprotokoll treten und (auch mit Blick auf das Revisionsverfahren) keinen Protokollcharakter haben (RegE, S. 11). Aus systematischen Gründen werden die grundlegenden Vorgaben für das Protokoll (bislang in § 273 I 1 StPO geregelt) in die Dokumentationsgrundnorm des § 271 I StPO-E verlagert, während die Regelungen zur Fertigstellung des Protokolls, die technische Details betreffen, sich ebenfalls aus systematischen Gründen in § 272 VI 1 StPO-E wiederfinden (Art. 1 Nr. 5, 6 RegE).

An der Struktur des Revisionsrechts, das durch die Abgrenzung von Tatsachen- und Rechtsüberprüfungsinstanz gekennzeichnet sei, will der RegE festhalten (RegE, S. 12). Nur dem Tatgericht stehe die Feststellung des strafrechtlich relevanten tatsächlichen Geschehens zu. Das Revisionsgericht sei auf die rechtliche Prüfung beschränkt (§ 337 StPO) und Eingriffe in tatsächliche Wertungen und Beweiswürdigungsspielräume des Tatgerichts seien nicht zulässig. Dabei bleibe es auch, wenn mit Hilfe der digitalen Dokumentation eine Rekonstruktion der Hauptverhandlung faktisch in weiterem Umfang als derzeit möglich sein werde. Durch die Dokumentation der Hauptverhandlung ergäben sich keine erhöhten Anforderungen an die Darstellung der Beweiswürdigung in den schriftlichen Urteilsgründen. Diese Darstellung solle nicht dokumentieren, was in der Hauptverhandlung ausgesagt oder sonst eingeführt worden sei. Sie müsse vielmehr das Ergebnis der Beweisaufnahme darstellen und dabei erkennen lassen, dass die Beweiswürdigung auf einer tragfähigen, verstandesmäßig nachvollziehbaren Tatsachengrundlage beruhe und sich nicht als bloße Vermutung erweise. Einzelne Beweisumstände seien nur zu erörtern, wenn das Ergebnis der Beweisaufnahme insgesamt dazu dränge. Die Heranziehung von Aufzeichnungen der Hauptverhandlung in der Revisionsinstanz soll möglich, aber entsprechend der Rechtsprechung des BGH zu „paraten“ Beweismitteln auf wenige Evidenzfälle beschränkt bleiben (RegE, S. 12). Der Umfang der Urteilsprüfung in der Revision solle in diesem Sinn durch einen neuen § 352 III StPO (Art. 1 Nr. 10 RegE) klarstellend konkretisiert werden:

§ 352 StPO-E

Umfang der Urteilsprüfung

...

(3) Zur Prüfung eines behaupteten Verfahrensmangels ist ein Beweismittel nur dann heranzuziehen, wenn der Verfahrensmangel daraus ohne weiteres erkennbar ist. Dies ist insbesondere dann nicht der Fall, wenn es möglich ist, dass weitere Beweiserhebungen dem Beweismittel die maßgebliche Bedeutung für das Urteil genommen haben, oder wenn lediglich Feststellungen oder Wertungen angegriffen werden, die dem Tatgericht vorbehalten sind.

Danach genüge für den Erweis der behaupteten Tatsachen nicht das bloße objektive Vorhandensein eines Beweismittels. Vielmehr müsse der Verfahrensmangel ohne weiteres, also „auf einen Blick“, erkennbar sein, ohne dass in tatrichterliche Auslegungs- und Beurteilungsspielräume eingegriffen werde. Umfangreiche Beweismittel, die einer wertenden Zusammenfassung und Auslegung bedürften, etwa stundenlange Mitschnitte von Aussageinhalten, seien damit zum Nachweis des Verfahrensfehlers nicht tauglich (RegE, S. 30). Ein ohne weiteres erkennbarer Verfahrensmangel liege auch dann nicht vor, wenn der Beweiswert des benannten Beweismittels durch den weiteren Verlauf der Hauptverhandlung, also andere in die Gesamtwürdigung des Tatgerichts einzustellende Beweisumstände, seine Beweisbedeutung verloren haben könne. Nur wenn ein nachträglicher Bedeutungsverlust des Beweismittels offensichtlich auszuschließen ist, kann von einem Rechtsfehler (§ 337 Abs. 1 StPO) ausgegangen werden (RegE, S. 30 f.). Die Zulässigkeitsanforderungen an Verfahrensrügen gem. § 344 II 2 StPO, wie vom BGH in ständiger Rechtsprechung präzisiert, seien auch bei einer digitalen Dokumentation der Hauptverhandlung zu erfüllen (RegE, S. 12). Durch eine Ergänzung von § 344 II 2 StPO (Art. 1 Nr. 9 RegE) werde klargestellt, dass Verfahrensrügen, die sich auf einen Eingriff des Revisionsgerichts in Wertungs- und Beurteilungsspielräume des Tatgerichts richteten, unzulässig seien (RegE, S. 30).

Oberstaatsanwalt beim BGH (Referatsleiter im BMJ) Markus Busch LL.M. (Columbia University), Berlin
Der Text gibt ausschließlich die persönliche Meinung des Verfassers wieder.


Verlag C.F. Müller

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