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Strafrechtlich relevante Teile im Koalitionsvertrag

Aus wistra 2/2022

Der 177-seitige Koalitionsvertrag „Mehr Fortschritt wagen – Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit“ für die 20. Legislaturperiode (2021–2025) wurde am 7.12.2021 von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP unterzeichnet. Der Vertrag besteht nach dem Inhaltsverzeichnis aus folgenden Teilen:

I. Präambel (S. 4); II. Moderner Staat, digitaler Aufbruch und Innovationen (S. 8), Moderner Staat und Demokratie (S. 8), Digitale Innovationen und digitale Infrastruktur (S. 15), Innovation, Wissenschaft, Hochschule und Forschung (S. 19); III. Klimaschutz in einer sozial-ökologischen Marktwirtschaft (S. 24), Wirtschaft (S. 25), Umwelt- und Naturschutz (S. 36), Landwirtschaft und Ernährung (S. 43), Mobilität (S. 48), Klima, Energie, Transformation (S. 54); IV. Respekt, Chancen und soziale Sicherheit in der modernen Arbeitswelt (S. 65), Arbeit (S. 66), Sozialstaat, Altersvorsorge, Grundsicherung (S. 72), Pflege und Gesundheit (S. 80), Bauen und Wohnen (S. 88); V. Chancen für Kinder, starke Familien und beste Bildung ein Leben lang (S. 93), Bildung und Chancen für alle (S. 94), Kinder, Jugend, Familien und Senioren (S. 98); VI. Freiheit und Sicherheit, Gleichstellung und Vielfalt in der modernen Demokratie (S. 103), Innere Sicherheit, Bürgerrechte, Justiz, Verbraucherschutz, Sport (S. 103), Gleichstellung (S. 114), Vielfalt (S. 116), Kultur- und Medienpolitik (S. 121), Gute Lebensverhältnisse in Stadt und Land (S. 127); VII. Deutschlands Verantwortung in Europa und für die Welt (S. 130), Europa (S. 131), Integration, Migration, Flucht (S. 137), Außen, Sicherheit, Verteidigung, Entwicklung, Menschenrechte (S. 143); VIII. Zukunftsinvestitionen und nachhaltige Finanzen (S. 158); IX. Arbeitsweise der Regierung und Fraktionen (S. 173). 

 

1. Im Rahmen des Abschnitts „Freiheit und Sicherheit“ enthält der Unterabschnitt „Justiz“ u.a. folgende allgemeine Aussage (S. 106):

„Das Strafrecht ist immer nur Ultima Ratio. Unsere Kriminalpolitik orientiert sich an Evidenz und der Evaluation bisheriger Gesetzgebung im Austausch mit Wissenschaft und Praxis. Wir überprüfen das Strafrecht systematisch auf Handhabbarkeit, Berechtigung und Wertungswidersprüche und legen einen Fokus auf historisch überholte Straftatbestände, die Modernisierung des Strafrechts und die schnelle Entlastung der Justiz. Das Sanktionensystem einschließlich Ersatzfreiheitsstrafen, Maßregelvollzug und Bewährungsauflagen überarbeiten wir mit dem Ziel von Prävention und Resozialisierung“ (S. 106). 

Überarbeitet werden sollen die Vorschriften der Unternehmenssanktionen einschließlich der Sanktionshöhe, um die Rechtssicherheit von Unternehmen im Hinblick auf Compliance-Pflichten zu verbessern und für interne Untersuchungen einen präziseren Rechtsrahmen zu schaffen (S. 111).

Bei der Weiterentwicklung des GWB soll eine Stärkung des BKartA geprüft werden, um ggf. bei erheblichen dauerhaften und wiederholten Verstößen gegen Normen des wirtschaftlichen Verbraucherrechts analog zu Verstößen gegen das GWB Verstöße zu ermitteln und diese abzustellen (S. 31).

Auch soll die EU-Whistleblower-Richtlinie rechtssicher und praktikabel umgesetzt werden. Whistleblower müssen nicht nur bei der Meldung von Verstößen gegen EU-Recht vor rechtlichen Nachteilen geschützt sein, sondern auch von erheblichen Verstößen gegen Vorschriften oder sonstigem erheblichen Fehlverhalten, dessen Aufdeckung im besonderen öffentlichen Interesse liegt. Die Durchsetzbarkeit von Ansprüchen wegen Repressalien gegen den Schädiger soll verbessert werden; dafür sollen Beratungs- und finanzielle Unterstützungsangebote geprüft werden (S. 111).

Im Unterabschnitt „Transparenz“ (S. 10) des Abschnitts „Moderner Staat und Demokratie“ wird – allerdings ohne nähere Hinweise – eine wirksamere Ausgestaltung des Straftatbestandes der Abgeordnetenbestechung und -bestechlichkeit angekündigt. – Steuerhinterziehung, einschließlich Umsatzsteuerbetrug soll intensiver bekämpft und verfolgt werden (S. 164, 166 f.). – Die Bekämpfung der Organisierten Kriminalität (OK, einschließlich der sog. Clankriminalität mit definitorischer Klärung), soll zu einem Schwerpunkt der Sicherheitsbehörden werden durch Nutzung strafrechtlicher Möglichkeiten u.a. bei der Vermögensabschöpfung und die Optimierung der Strukturen bei der Geldwäschebekämpfung (S. 107).

Strafprozesse sollen noch effektiver, schneller, moderner und praxistauglicher werden, ohne die Rechte der Beschuldigten und deren Verteidigung zu beschneiden. Vernehmungen und Hauptverhandlung müssen in Bild und Ton aufgezeichnet werden. Unter anderem soll die Verständigung im Strafverfahren einschließlich möglicher Gespräche über die Verfahrensgestaltung und das grundsätzliche Verbot der Tatprovokation geregelt werden. Gerichtsentscheidungen sollen grundsätzlich in anonymisierter Form in einer Datenbank öffentlich und maschinenlesbar verfügbar sein. Die Verteidigung der Beschuldigten soll mit Beginn der ersten Vernehmung sichergestellt werden. – Entsprechend den Anforderungen des EuGH soll das externe ministerielle Einzelfallweisungsrecht gegenüber den Staatsanwaltschaften angepasst werden (S. 106). – Die Arbeit der Gerichte soll unterstützt werden (S. 103). Die Wahl und die Beförderungsentscheidungen für Richter an den obersten Bundesgerichten sollen unter den Kriterien Qualitätssicherung, Transparenz und Vielfalt reformiert werden. Gerichtsverfahren sollen schneller und effizienter werden: Verhandlungen sollen online durchführbar sein, Beweisaufnahmen audio-visuell dokumentiert und mehr spezialisierte Spruchkörper eingesetzt werden (S. 106).

Skepsis besteht offensichtlich hinsichtlich der Videoüberwachung, die flächendeckend wie ebenso der Einsatz von biometrischer Erfassung zu Überwachungszwecken abgelehnt wird. Sie kann allerdings eine bürgernahe Polizei an Kriminalitätsschwerpunkten ergänzen. Mit der Login-Falle sollen grundrechtsschonende und freiheitsorientierte Instrumente geschaffen werden, um die Identifizierung von Tätern zu erreichen. – Die Ausnutzung von Schwachstellen von IT-Systemen steht in einem hochproblematischen Spannungsverhältnis zur IT-Sicherheit und den Bürgerrechten. Der Staat wird daher keine Sicherheitslücken ankaufen oder offenhalten, sondern sich in einem Schwachstellenmanagement unter Federführung eines unabhängigeren Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik immer um die schnellstmögliche Schließung bemühen. Für den Einsatz von Überwachungssoftware, auch kommerzieller, sollen die Eingriffsschwellen hochgesetzt und das geltende Recht so angepasst werden, dass der Einsatz nur nach den Vorgaben des BVerfG für die Online-Durchsuchung zulässig ist.

Die Befugnis des Verfassungsschutzes zum Einsatz von Überwachungssoftware wird im Rahmen der Überwachungsgesamtrechnung überprüft. Das BPolG soll ohne die Befugnis zur Quellen-TKÜ und Online-Durchsuchung novelliert werden. Solange der Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung nicht sichergestellt ist, muss ihr Einsatz unterbleiben. Transparenz und effektive Kontrolle durch Aufsichtsbehörden und Parlament sollen sichergestellt werden. – Im Hinblick auf das zu erwartende EuGH-Urteil zur Vorratsdatenspeicherung geht der Vertrag davon aus, dass Regelungen dazu so auszugestalten sind, dass relevante Daten rechtssicher anlassbezogen und durch richterlichen Beschluss gespeichert werden können (S. 109).

Die grenzüberschreitende polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit soll rechtsstaatlich intensiviert werden. Dabei soll der hohe Datenschutzstandard gesichert und der grenzüberschreitende Rechtsschutz verbessert werden. Angestrebt wird eine Weiterentwicklung von Europol zu einem Europäischen Kriminalamt mit eigenen operativen Möglichkeiten. Die Europäische Staatsanwaltschaft soll finanziell und personell ausgebaut werden. – Die Aussagekraft der Kriminal- und Strafrechtspflegestatistiken soll nachhaltig verbessert werden. Der periodische Sicherheitsbericht soll gesetzlich verankert werden (S. 105).

 

2. An ergänzenden präventiven und repressiv wirkenden Maßnahmen ist folgendes hervorzuheben:

„Deutschland wird beim Kampf gegen Steuerhinterziehung und aggressive Steuervermeidung eine Vorreiterrrolle einnehmen.“ 

Das strategische Vorgehen gegen Steuerhinterziehung, Finanzmarktkriminalität und Geldwäsche soll im BMF organisatorisch und personell – und darüber hinaus auch der Zoll, das BZSt und BaFin sowie die FIU – gestärkt werden (S. 166). Die bereits eingeführte Mitteilungspflicht für grenzüberschreitende Steuergestaltungen soll auch auf nationale Steuergestaltungen von Unternehmen mit einem Umsatz von mehr als 10 Mio. EUR ausgeweitet werden. Der Kampf gegen Umsatzsteuerbetrug soll in Zusammenarbeit mit den Ländern intensiviert werden. Zur Senkung der Betrugsanfälligkeit des Mehrwertsteuersystems und zur Modernisierung und Entbürokratisierung der Schnittstelle zwischen Verwaltung und Betrieben gehöre die schnellstmögliche bundeseinheitliche Einführung eines elektronischen Meldesystems zur Verwendung für die Erstellung, Prüfung und Weiterleitung von Rechnungen. Missbräuchliche Dividendenarbitragegeschäfte sollen unterbunden werden. Um dies betrugssicher zu stellen, sollen neue technische Möglichkeiten, z.B. Blockchain, noch stärker genutzt werden. Der Daten- und Informationsaustausch zwischen Finanzaufsicht und Steuerbehörden soll zukünftig auch bei Verdachtsfällen der missbräuchlichen Dividendenarbitrage und des Marktmissbrauchs möglich sein. Die Koalition will sich auch dafür einsetzen, dass die Steueroasen-Liste der EU ständig aktualisiert wird. Die OECD-Regeln gegen Umgehungsgestaltungen beim internationallem Finanzkonteninformationsaustausch (CRS und FACTA) sollen umgesetzt werden. Der Informationsaustausch soll ausgeweitet werden (alles S. 167).

 

3. Für den Geldwäschebereich schlägt der Vertrag S. 171 f. folgendes vor:

„Um Geldwäsche effektiv zu bekämpfen braucht es eine zwischen Bund, Ländern und EU abgestimmte Strategie. Hierbei sind auch die Zuständigkeiten zu überprüfen. Mögliche Empfehlungen aus der FATF-Deutschlandprüfung werden wir wo nötig zügig in deutsches Recht umsetzen. Bei besonders finanzmarktnahen Verpflichteten wird die Geldwäscheaufsicht auf die BaFin übertragen. Für die laufende Bewertung und Verbesserung der Effektivität der Geldwäschebekämpfung in Deutschland soll die notwendige Informations- und Erkenntnisgrundlage aufgebaut werden. Die Geldwäsche-Meldungen aus dem Nicht-Finanzbereich, wie z. B. dem Immobiliensektor, wollen wir erleichtern und im Vollzug deutlich erhöhen. Wir wollen die illegale Finanzierung von Immobilien durch geeignete Maßnahmen bekämpfen. Dazu gehört der Versteuerungsnachweis für gewerbliche Immobilienkäufer aus dem Ausland sowie ein Verbot des Erwerbs von Immobilien mit Bargeld. Wir werden uns auf EU-Ebene dafür einsetzen, die zentralen Geldwäschevorschriften in eine Verordnung zu überführen. Ziel ist es, den Kampf gegen Geldwäsche europaweit effektiver zu gestalten und noch bestehende Lücken zu schließen. Wir sind für eine effektive und unabhängige EU-Geldwäschebehörde wie von der Europäischen Kommission vorgeschlagen und setzen uns für deren Sitz in Frankfurt/Main ein. Die EU-Aufsichtsbehörde soll sich nicht nur um den klassischen Finanzsektor kümmern, sondern auch den Missbrauch von Kryptowerten für Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung verhindern. Die FIU muss die notwendigen rechtsstaatlich abgesicherten Befugnisse bekommen sowie den Zugang zu allen nötigen Informationen. Wir werden Verbindungsbeamte aus den Landeskriminalämtern in der FIU einsetzen. Wir wollen den risikobasierten Ansatz weiter verbessern. Ferner wollen wir die Qualität der Meldungen verbessern, indem die Verpflichteten verstärkt Rückmeldung bekommen. Wir wollen den Zoll moderner und digitaler aufstellen, damit er Schwarzarbeit und Finanzkriminalität effizienter verfolgen kann. Dafür sollen die notwendigen Aus- und Weiterbildungskapazitäten geschaffen werden und es braucht IT-Verfahren, die die Arbeit der ... Zöllner im Umgang mit den enormen Datenmengen erleichtern. Zudem sollen bürokratieärmere Verfahren umgesetzt werden. Wir werden die Qualität der Daten im Transparenzregister verbessern, sodass die wirtschaftlich Berechtigten in allen vorgeschriebenen Fällen tatsächlich ausgewiesen werden. Wir wollen die digitale Verknüpfung mit anderen in Deutschland bestehenden Registern. Wir werden das Datenbankgrundbuch mit dem Transparenzregister verknüpfen, um die Verschleierung der wahren Eigentümer von Immobilien zu beenden. Verknüpfung und Nutzung werden wir datenschutzkonform gestalten.“ 

Schließlich soll die Unabhängigkeit der Wirtschaftsprüfer weiter gestärkt werden und der hohen Konzentration auf dem Abschlussprüfungsmarkt mit geeigneten Maßnahmen, z.B. bei der öffentlichen Auftragsvergabe, entgegengetreten werden (S. 173).

Dr. Manfred Möhrenschlager, Bonn-Oberkassel
 


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